Wie man nützlich digitalisiert

Timo Würsch, 2020-06-10

Ansätze aus dem nutzerzentrierten Design helfen der Digitalisierung, das zu liefern, was sie verspricht.

Seit einigen Jahren mache ich benutzerzentriertes Design von Software: Apps, Websites, Intranets - alles Digitale für so ziemlich alle Branchen. Ich habe die Aufgabe, und das Privileg, Nutzerinnen und Nutzern über die Schulter zu schauen, während sie Software benutzen. Dabei kann ich beobachten, was aus menschlicher Sicht funktioniert, und was eben auch nicht funktioniert. Und ich bekomme oft den Eindruck, dass wir mit der Digitalisierung noch lange nicht so weit sind, wie wir sein könnten, damit sie tatsächlich nützlich ist. Dabei hat die Digitalisierung das Potenzial, für Wirtschaft und Gesellschaft zu einem wichtigen Entwicklungsschritt zu werden. Ich spreche allerdings bewusst nur von einem Potenzial.

Produktivität, Zuverlässigkeit und Nebenwirkungen: Noch nicht so, wie sie sein sollten

Die Digitalisierung hat uns in den letzten 30 Jahren ganz viel Nützliches gebracht: E-Commerce, Online-Banking, Social Media, Zugriff auf ganz viel Wissen und ganz viele Medien. Unternehmen haben gewisse Prozesse schneller gemacht und automatisiert, und Staat und Verwaltung sind dank E-Government (etwas) näher an die Bürger gerückt. Wenn man etwas recherchiert, sieht man aber, dass einige wichtige Dinge noch fehlen:

  • Spürbare Produktivitätsgewinne, sowohl für die Wirtschaft, wie auch für die Gesellschaft. Trotz Digitalisierung steigt die Produktivität nicht wirklich, wie z.B. die OECD1) und McKinsey2) feststellen. Open Data, als Beispiel, hat potenziell einen grossen gesellschaftlichen Nutzen3), der sich aber nur langsam materialisiert4).
  • Zuverlässigere IT-Projekte. Es gibt immer wieder Beispiele von Digitalisierungsvorhaben, die teurer als geplant waren, ganz abgebrochen wurden, oder den vorgesehenen Nutzen nicht bringen. Sowohl in der Schweiz5) 6) 7) wie auch im Ausland8) 13).
  • Digitalisierung ohne Nebenwirkungen. Einige Beispiele: Konstante Erreichbarkeit ist sehr nützlich, sie macht es uns aber gleichzeitig schwierig, zu entspannen oder uns auf etwas zu fokussieren9). Beides ist für unser Wohlergehen und unsere berufliche Leistungsfähigkeit essenziell. Die Gig Economy macht gewisse Arbeiten zwar flexibler, aber oft zum Nachteil der Arbeitnehmenden10). Und Soziale Medien werden zur gezielten Desinformation missbraucht 11).

Ich denke deshalb, dass wir mit der Digitalisierung etwa hier sind:

Digitalisierung-nach-dem-Hype

Das mag pessimistisch ausschauen. Ich denke aber, dass das Beste erst noch kommt.

Nicht erkannte Anforderungen und Zusammenhänge

Wenn man nun “Warum?” fragt, sieht man zumindest in den obenstehenden Quellen eine ganze Menge an möglichen Erklärungen.

  • Zu mangelnder Produktivität führen insbesondere:
  • Fehlendes Verständnis dafür, dass sich Systeme und Arbeitsabläufe gegenseitig beeinflussen und ergänzen
  • Software, die nicht an Arbeitsabläufe angepasst oder schlecht bedienbar ist
  • Mangelnde Integration
  • Nicht zugängliche oder nicht miteinander harmonisierte Daten
  • Treiber für hohe Kosten und unzuverlässige Projekte sind:
  • Anforderungen, die sich laufend ändern
  • Ungenügende Konzepte
  • Fehlendes Fachwissen im Umgang mit Digitalisierung
  • Zu Nebenwirkungen führen:
  • Unintentional Design: Design-Auswirkungen, die man nicht vorhergesehen hat
  • Problematische Geschäftsmodelle, insbesondere solche, die direkt von der Aufmerksamkeit des Nutzers profitieren.

Diese Probleme decken sich mit Beobachtungen, die man als Designer (und wohl auch als Consultant oder Business Analyst) oft in der täglichen Arbeit macht.

Abhilfe: Besser auf den Menschen achten

Das Gegenmittel? Zuerst einmal: Auch für mich gilt, dass…

It is tempting, if the only tool you have is a hammer, to treat everything as if it were a nail. (Law of the instrument)

Klar sehe ich vieles durch die nutzerzentrierte Brille. Dennoch denke ich, dass ein wesentlicher Teil der wirklich nützlichen Digitalisierung ist, dass man besser auf den Menschen achtet. Deshalb hier einige Vorschläge:

Symptom Ursache Abhilfe
Anforderungen, die sich laufend ändern; Fehlendes Verständnis für Zusammenhänge zwischen Systemen und Benutzern Nicht von Anfang an alle Rollen mit an Bord; Fehlendes gemeinsames Verständnis Einbinden von allen Stakeholdern in Research-, Prototyping14)- und Testing-Phasen
Anforderungen, die sich laufend ändern und Software, die nicht an Arbeitsabläufe angepasst ist Nicht genügend Zeit investiert, um die tatsächlichen Probleme der Nutzer zu analysieren Nutzerforschung (User Research): Interviews, Kontextbeobachtungen
Fehlendes Verständnis für Zusammenhänge zwischen Systemen und Benutzern; Mangelnde Integration; Design-Auswirkungen, die man nicht vorhergesehen hat Fehlender “Schritt zurück”, um den ganzen Kontext zu verstehen Fragen: “Welchen Wert schafft das, was wir machen, für wen?”12); Nutzerforschung; Einbinden von Stakeholdern
Fehlendes Digitalisierungs-Fachwissen; Fehlendes Verständnis für Zusammenhänge zwischen Systemen und Benutzern; Ungenaue Konzepte Dem Kunden zwar eine Dienstleistung verkauft, ihn aber nicht weitergebildet Erklären und Begründen von Design-Prozessen
Teure Anpassungsarbeiten; Software, die nicht an Arbeitsabläufe angepasst ist Lösungen umgesetzt, ohne sie mit Nutzern zu prüfen Hypothesenbasiertes Prototyping und Testing
Software, die nicht an Arbeitsabläufe angepasst oder schlecht bedienbar ist Fehlende Vereinfachung für Nutzer Detailliertes, zugeschnittenes Interaktionsdesign. Setzt Nutzerforschung voraus.

Weiterführende Informationen

  1. Digitalisation and productivity: a story of complementarities
  2. Solving the productivity puzzle
  3. Research: The economic value of open versus paid data
  4. Open Data Barometer: Executive Summary
  5. Probleme bei Nachfolgeprojekt von Insieme
  6. Projekt-Abbruch: Das neue Simap kann nicht beschafft werden
  7. Den SBB droht ein Chaos wegen Software-Problemen
  8. Death by a Thousand Clicks: Where Electronic Health Records Went Wrong
  9. Positive technology: Designing work environments for digital well-being
  10. Woodcock, Jamie. “The Impact of the Gig Economy.” In Work in the Age of Data. Madrid: BBVA, 2019.
  11. The Global Disinformation Order: 2019 Global Inventory of Organised Social Media Manipulation
  12. Thinking in Triplicate: You have to see the whole story to make it come true
  13. Why Software Fails
  14. Prototyping: Why Bother and Where to Start? A Definitive Introduction